Der Gaulssteig im historischen Gewand
Die 13. Rischinger Gaulssteigwanderung zeigte sich am 22. September ganz im historischen Gewand. Im Jubiläumsjahr war die Veranstaltung als Geschichtsspaziergang angesagt, bei dem sich in der Hauptstraße „Fenster und Türen öffneten“. Einblicke in die Vergangenheit begegneten den Wanderinnen und Wanderern auf dem wie angekündigt gemütlichen, unterhaltsamen, historischen und genussvollen Gang durch Rüssingen. Wanderführer Arno Stuppy mit seinem Wanderspruch und Ortsbürgermeister Steffen Antweiler begrüßten die auf dem Dorfplatz versammelte Wanderschar. Mit einem Sektempfang an der traditionellen Gaulssteigtränke durfte sich eingestimmt werden. Für die Sicherheit auf der Straße sorgten im historischen Outfit zwei in der Rüssinger Geschichte wahrhaft vorgekommene Polizei- und Gemeindediener, Christian Horn als Peter Maurer und Max Hartenbach als Heinrich Hahn. Gerade wollte sich die Gruppe in Bewegung setzen, musste aber gleich wieder Halt machen, weil Maria Anna Guthy (Sandra Kimmel) in guter Robe ( wie am 21.April 1888) und mit zwei Koffern auf die Bushaltestelle zusteuerte. Völlig aufgelöst antwortete sie auf die Frage „was ist passiert und wo geht’s denn hin?“ „Ich gehe an die Bushaltestelle und fahre nach Amerika!“ um nach dieser Bemerkung die Wahrheit zu sagen: „als Witwe mit vier Kindern ist die Not für mich in Rüssingen zu groß und ich will auswandern. Meine Verwandten, die schon in Amerika wohnen haben mir geschrieben ich soll doch kommen, weil ich dort gut leben könnte. Jetzt will ich weg von hier, auch wenn es mir sehr schwerfällt“. Die Begegnung mit Maria Anna Guthy erinnerte an 33 Rüssinger, die im 19.Jahrhundert ausgewandert sind, um weit ab der Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Sie selbst wanderte zweimal aus, um dann 1898 vor lauter Heimweh endgültig in ihren Geburtsort zurückzukehren.
Bei der ehemaligen Schmiede Rudolph öffnete sich ein Fenster und Anna Maria Rudolph (Gisela Brieschke) eine geborene Wendel wunderte sich über die vielen Menschen „uff de Gass“ um dann von ihrem Elternhaus zu erzählen, welches schon über 200 Jahre alt ist und sie 1872 von ihren Eltern geerbt hatte. 1879 heiratete sie Friedrich Rudolph, einen Schmied, der Rüssingen „grad noch gefehlt hat“. Aus dem Hof klangen die Hammerschläge auf dem Ambo, bevor auch der Schmied (Guido Brieschke) sich in originaler Arbeitskleidung und von Ruß und Kohle gezeichnet am Hoftor zeigte. Er erzählte von seinem herrlichen Beruf, den er gut beherrsche und wie er seine Frau beim Tanzen kennengelernt hatte und sich entschloss wegen ihr von Münsterappel nach Rüssingen zu kommen. Hier gab es bis dahin nur einen Berufskollegen, aber viel zu tun.
Nun ging es weiter zur Hauptstraße 40. Arno Stuppy führte aus, dass in diesem schönen Gebäude 137 Jahre Wirtshaustradition steckt. Schon 1848 hatte Konrad Uhl damit begonnen und vier weiter Generationen der Familie folgten, ehe 1937 Familie Friedrich Becker, danach Georg Dinger, Karola Stein und zuletzt Herbert Büchner das Gasthaus weiterführten. Das Wirtshaus hatte einen Saal. Viele Erinnerungen gibt es noch heute an die Kerwe. Die Nostalgie mischt sich mit Wehmut, weil die Wirtshäuser längst verschwunden sind. Noch einmal sollte vor dem ehrwürdigen Gebäude durch die Wanderschar der Ruf: „Die Rischinger Kerb, sie lewe“ durch die Hauptstraße schallen. In diesem Moment öffnete sich wie durch Geisterhand das Hoftor und die staunenden Zuschauer fanden sich inmitten der alten Zeit: Eine „Musikkapelle“ stand im Hoftor und ließ wohlgesetzte Tanzklänge auf die Straße strömen. Mit großem Applaus wurden Sandra Kimmel, Petra Keller, Tanja Schwallie, Andreas Burgey und Peter Kimmel für ihren wunderbaren Auftritt bedacht. Für eine kurze Zeit war die Vergangenheit in das Haus der Familie Völpel und auf die Gass zurückgekehrt.
Die Wanderung führte weiter zum ehemaligen Hof von August Adam Wendel, heute die Steinewerkstatt der Familie Cirotzki. Auch hier öffnete sich ein Fenster und Ricarda Cirotzki, als alte Frau Knappe verkleidet und war überrascht über die vielen Leute vor ihrem Haus. Nach dem freundlichen Gruß hatte sie eine Vermutung, „ihr seid wegen dem Heinrich(Arne Matscke) gekommen, wegen dem Zucker-Knappe! Ja bestimmt deshalb“. Sie rief nach Luzia (Birgit Baque-Stuppy), Heinrichs Schwester, „er der Heinrich könne heut ein gutes Geschäft machen“, so viele Kunden stehen vor dem Tor, das sich nun öffnete. Heinrich und seine Schwester erschienen mit Bauchladen und Tablett voller Pralinen. In Konditorkleidung erzählte er, dass er 1925 geboren wurde und einst in diesem Anwesen wohnte. Seine Ausbildung als Bäcker und Konditor führte ihn zum Meistertitel. Seine Spezialitäten seien Pralinen, die er schon an der Rischinger Kerwe verkaufte. Auch heute habe er viele dabei „und nun könnte er ja ein gutes Geschäft machen“. Seine Schwester Luzia sagte zu ihrem Bruder: „Ach Heinrich guck emol, alle so liebe Leit und Rischinge wird doch 1250 Johr, wir verschenken heute die guten Pralinen, die du gemacht hast, das wäre doch freundlich“. Heinrich war damit einverstanden und nun wurden alle Pralinen den wandernden Frauen, Männer, jungen Leute und Kinder ausgeteilt. Einhundertsechzig Pralinen hatte Elli Matschke in Handarbeit für diesen Anlass gezaubert.
Am heutigen Franziskushof drückten sich zwei Frauen an den Fenstern die Nasen platt, um zu sehen, was draußen auf der Straße los sei. Das erste Fenster öffnete sich und eine Frau stellte sich als Luise Lauermann (Birgit-Baqué-Stuppy) vor. Sie war die Tochter des hiesigen Pfarrers Candidus und hatte im März 1866 den Hofbesitzer und guten Bauersmann, der mit einem Ehrendiplom ausgezeichnet war, geheiratet. Nach zehn Jahren ist er gestorben und sie stand mit vier Kindern allein da. Jetzt öffnete sich das zweite Fenster und Tochter Laura (Lisett Stuppy) zeigte voll Stolz das Ehrendiplom und eine Aufnahme von ihrem Vater. Mutter Luise berichtete von ihrem ältesten Sohn Albert, 1866 geboren, der es „sehr weit gebracht hatte“ und als Bildhauer 1910 in seiner Kunstwerkstatt in Detmold die Sarotti-Figur herstellte. Ein Rüssinger wurde weltbekannt. Zur Überraschung ging nun die Haustür auf und Christa Heun erschien im bunten Sarotti-Kostüm und erzählte, dass ihre ursprüngliche Farbe war weiß, jedoch veränderte sich im Laufe der Zeit ihr Äußeres. Zur Ehre von Albert Lauermann und zum Rüssinger Jubiläumsjahr ist sie mit kleinen Schokoladentäfelchen, die sie austeilte, aufgetreten.
Die nächste Station der Wanderung führte zur Hauptstraße 1. Hier erwartete die Zuhörenden eine Geschichte aus einer schweren Zeit, die jedoch durch die mutige Tat einer Familie gut endete. Vor dem Hoftor stand Frau Katharina Mayer (Hanna Gelbert), 1890 in Wartenberg geboren und erzählte, dass die Familie im Krieg eine durch ihre Eltern bekannte Jüdin namens Anna Ackermann in ihrem Hof versteckt hatten. Während sie von der Angst der Familie erzählte entdeckt zu werden, war sie überzeugt, einem Menschen zu helfen, der keine Schuld hatte. Eigentlich „wollte sie nicht mehr an die schreckliche Zeit denken und nur noch dem Herrgott danken.“ Anna Ackermann saß versunken in ihrem Sessel (Anna Grünewald, ihre Ururenkelin) und hatte ihre Flucht und das Unterkommen bei Familie Mayer vor Augen. Mit großer Dankbarkeit umarmte sie Katharina Mayer und lobte das glückliche Ende, dem Konzentrationslager entkommen zu sein.
Im Fasanenweg hielt die Gaulssteigtränke an und Hanna Gelbert als Weinkönigin Hanna I., lobte in hohen Tönen den Weinanbau seit der Römerzeit, der schon 2000 Jahre zur Geschichte Rüssingens gehört. Ihre Rede endete mit: „…sind in der heutigen Zeit auch nur wenige Rebzeilen in der Gewann, stoßen wir im Jubiläumsjahr mit einem guten Tropfen an, auf dem Breinsberg in guter Lage wuchs die Kost, so rufe ich euch zu, auf unsere eintausendzweihundertfünfzig Jahre PROST!“
Nun war der Weg zum Vereinsgelände des Natur- und Vogelschutzvereins nicht mehr weit, wo Mägde und Wirte des Vereins sich für die wandernden Gäste mit Eintopf und einer Kuchentafel als gute Gastgeber zeigten.
Eine Wanderung, die bei herrlichem Wanderwetter 88 zufriedene Wandersleute, Akteur*innen, Schauspieler*innen, Mägde und Wirte auf die Beine brachte.
Arno Stuppy